Mit Allergien haben wir gelernt umzugehen. Wir ersetzen Weizen durch Dinkel, Milch durch Hafermilch, Hühnereier durch Sojamehl. Welches Kraut aber ist gegen diese schleichende, überhand nehmenden Aversion gegen Kohlenhydrate gewachsen? Sie breitet sich zu einer Zivilisationskrankheit aus, die hinterrücks und fast unmerklich von unserem Bewusstsein und Unterbewusstsein Besitz ergreift. Kohlenhydrate liegen so gar nicht mehr im Trend. Leider. Selbst in unserem Leben hat sich dieser Dämon eingenistet und tyrannisiert uns mehr als uns lieb ist.
Angefangen hat das ganze vor ein paar Jahren mit Freundin A, intelligent, schlank, wahnsinnig diszipliniert. Wie immer verzichtete sie zur Entschlackung drei Monate gänzlich auf Alkohol. Damals jedoch setzte sie noch einen drauf. Auch Weizen und Kartoffeln mussten, zumindest nach 18 Uhr, dran glauben. Dauer der Maßnahme zeitlich unbegrenzt. Also kein knuspriges Baguette mehr, nur noch nackte Antipasti zum Abendessen.
Ich dachte mir erstmal nichts weiter dabei.
Dann kam Freundin B. Die erzählte mir, wie toll man abnehmen kann, verzichtet man zumindest eine zeitlang gänzlich auf alle Weizenprodukte. Also auch vor 18 Uhr keine Tagliatelle, kein Bauernbrot, keinen Marmorkuchen mehr. Trübe Aussichten. Nur noch Käse, Salat und gedünstetes Grünzeug (zumindest für uns Veggis). Aber für die Dauer von einem Monat durchaus machbar, um zwei überflüssige Kilos loszuwerden.
Ich war infiziert.
Freundin C wiederum hält sich an Schlank-im-Schlaf. Auch bei ihr kommt abends keines dieser abscheulichen Kohlenhydrate auf den Teller, geschweige denn ins Glas. Von ihr musste ich mit Schrecken lernen, dass auch Wein und Schokolade, wo ja nun wirklich kein Weizen drin steckt, absolut verboten sind. Das war bitter und die Zeit nach 18 Uhr trostlos.
Essen macht langsam keinen Spaß mehr.
In Zeitschriften, Magazinen, im Internet nimmt die Kohlenhydrate-Hetzjagd dann ihren unkontrollierten Lauf: unzählige Beiträge über Atkins, Low Carb, Vegan For Youth und wie sie alle heißen. Wer heute nicht den Unterschied zwischen kurzen und langen Kohlenhydrat-Ketten kennt, outet sich als unzeitgemäß, zumindest was das Ernährungsbewusstsein anbelangt. Jeder Bissen, den man zu sich nimmt, durchläuft die innere Kontrollzentrale. Und die 18-Uhr-Schallgrenze führt dazu, dass um zehn vor sechs das frisch duftende Sauerteigbrot, das man eine halbe Stunde zuvor aus dem Ofen genommen hat, noch schnell angeschnitten wird, um den warmen Kanten mit Butter genießen zu können. Dann noch mindestens eine Scheibe hinterher, weil es so wahnsinnig gut schmeckt. Was braucht man mehr?
Eigentlich total hirnrissig das Ganze.
Über die langfristigen Folgen macht sich merkwürdigerweise niemand Gedanken. Kohlenhydrate, und das ist wissenschaftlich erwiesen, erhöhen den Serotoninspiegel, sind also für das Glücksgefühl von entscheidender Bedeutung. Ein Mangel führt nachweislich zu schlechter Laune, Depressionen und Schlimmerem. Wie viele Freundschaften und Ehen mögen schon daran zerbrochen sein?
Es heißt ja auch nicht ohne Grund Abendbrot und Brotzeit.
Meine Freundin A hat übrigens im Lauf der Jahre ihren hübschen Hintern eingebüßt, er ist einfach weg. Freundin B kommt von ihren Kilos nicht wirklich runter, hat aber auch keine Lust, nur zu verzichten. Und Freundin C hat ihren Mann verlassen, Schlank-im-Schlaf aus ihrem Leben gestrichen und seitdem ihren überzähligen Pfunde von ganz alleine verloren. Über Kohlenhydrate reden wir nicht mehr, wir verschlingen sie.
Erschienen in „Brot“, 2/2014, Autorin: Anna Degler-Wander