Ich stehe vor der Vitrine in der Bäckerei. Gleich ist es 18 Uhr, dann wird sie schließen. Es ist einfach herrlich: im Brotregal herrscht gähnende Leere. Ich habe nur noch die Wahl zwischen einem dunklen, etwas kieferstrapazierend anmutenden Vollkornbrot in Dosenform, einem Landstreicher, einem Joggingbrot und einer Milchbrotkapsel.
Joggen oder auf den Mond düsen wollte ich heute eigentlich nicht mehr. Die Entscheidung ist schnell gefallen. In einer bis unter die Decke bestückten Bäckerei fällt es mir nämlich äußerst schwer, mich zwischen den gefühlt 100 Brotsorten zu entscheiden.
Da ich mein Brot normalerweise selbst backe, versuche ich dann im Fachgespräch herauszufinden, was der genaue Unterschied zwischen einer Küstenbulle, einer Premiumkruste (in meinen Ohren klingt das schlicht nach mehr Geld für harte Rinde) und einem Schleusenknust in puncto Mehlmischung, Krume und Geschmack ist, während hinter mir die Schlange immer ungeduldiger wird.
Mit dem Verlangen nach einem einfachen Roggen-, Weizen- oder Mischbrot ist es nicht mehr getan. Heute muss man eine Bäckerei schon mit etwas differenzierteren Vorstellungen betreten. Erstaunlich finde ich, wie viele Variationsmöglichkeiten Mehl, Wasser, Salz und Triebmittel hergeben. Im deutschen Brotregister sind allein schon über 3.200 Brot-Spezialitäten eingetragen. Erst kürzlich wurden sie von der Kultusministerkonferenz ins Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes von Deutschland aufgenommen. Das ist schon toll. Das gibt’s nur hier.
Aber ganz ehrlich, wer kennt sich bei diesen Massen noch aus? Und für wen werden diese ganzen Brote mit ihren vielversprechenden Namen überhaupt erfunden? Der Kunde hat ein vielfältiges Verlangen, so sagen die Bäcker, was angesichts von über 1,5 Millionen Tonnen verkauften Brots jährlich glaubwürdig klingt. Doch welche tieferen Bedürfnisse befriedigt es?
Am meisten leuchtet das Familienbrot ein. Das hört sich an, als könne man damit nichts falsch machen, und alle sitzen schließlich zufrieden mampfend am Abendbrottisch. Holzluken- und Steinofenbrot, Mühlen- und Klosterbrot werden für Traditionalisten geknetet und versprechen rustikalen Genuss. Wer zeitlich lieber noch weiter zurück greift, probiert es mit einem Urbrot oder einem Neandertaler, vielleicht sind diese ja sogar getreidefrei und somit für Steinzeitdiätler geeignet. Nur der Torfklotz klingt ähnlich schwerverdaulich. Eine Prise Esoterik und mehr noch Naturverbundenheit kauft man sich mit einem Hafertraum, einem Wurzel- oder Fünf-Felder-Brot, einer Schwabensonne oder dem Vollmondbrot.
Selbst der Fitnessbereich ist abgedeckt, man hat die Qual der Wahl zwischen einem Walking-, Sprinter- oder Marathonbrot, der Bergsteiger, der Gipfelstürmer, der Reiter, Handballer und Fußballer – jeder bekommt einen eigens für ihn kreierten Laib in die Tüte. Bäckerdoping verspricht das Vitalbrot, Vierkorn-Wellness oder Powerbrot, wobei das HT 16 Hafer-Sport oder Vita-Plus-X2 mehr nach Hightec-Turnschuh als nach Backwerk klingen. Dank unserer modernen Lebensweise wird aus dem guten alten Brotlaib ein Muntermacher, Rank und Schlank, Optimisten-, Gute-Laune- und Low-Carb-Brot.
Eine Steigerung findet man dann noch im Internet. Etwa die Tipps zum Selbstbacken von Busy-People-Brot und No-Knead-Bread, wo endlich das ganze zeitraubende Geknete abgeschafft wird. Und, wen wundert es, dort wird auch vollmundig am ganz großen Rad der Illusion gedreht: mit dem Life-Changing-Bread. Ein Brot, dass das ganze Leben verändern soll? Wie gut, dass dort niemand hinter der Theke stehen muss, um die Reklamationen entgegenzunehmen.
Erschienen in BROT 1/2015